Montag, 16. November 2009

BLUES


Gestopftes Leinen gegen Licht
Am 100. Tag des Jahres wurde Leinen gesät. Je dichter gesät wird, umso feiner wird die Flachsfaser.

Wenn er am 9. April eingesät wurde, blüht der Flachs im Juni.

Flachs im Historischen Küchengarten in Diemelstadt-Rhoden in Waldeck

Man taucht besonders ein in das Blütenmeer bei Flachseinsaat entlang der Wege
Helma Sanders-Brahms 2012 in Rhoden -
Am 20.11.13, an ihrem Geburtstag schrieb sie den Text "Für Barbara Beisinghoffs Buch zum Flachs:
BLAU - Blau ist der Himmel, hellblau, die ganze grosse Schale über uns, und kein Flugzeug durchschneidet ihn. Es ist Frühling.

Er möchte sich mit der grünenden Erde verbinden, er bricht auf in unsichtbaren Rissen, noch viel feiner als Spinnweb, und lässt Funken seines Blaus auf die feuchte Erde unter sich regnen.
Die liegen da auf dem Dunkeln.
Und funkeln.
Und wollen wieder zurück nach oben.
Sie bilden kleine feine Leitern, Spinnwebleitern, mit den dünnen Körperchen, die sie austreiben.
Aber der Weg bis nach ganz oben ist zu weit.
Sie verästeln sich, sie versuchen es gemeinsam.
Aber die Kraft reicht nicht.
Dann kommt ein leichter Wind, der bewegt sie, der macht sie tanzen, und das ist schön, das mögen sie. Sich biegen, sich drehen, umeinander, miteinander.
Und dann kommt die Sonne und scheint auf sie, da öffnen sich ihre blauen Gesichter, ganz aus
Himmelsblau gemacht,
und schweben über den tanzenden Spinnwegkörperchen und ihren feinen Leitern nach oben.
Sie kommen auch nicht sehr hoch, die Gesichter, aber sie sind viele tausend und abertausend
Antworten auf das Blau des Himmels, aus dem sie gekommen sind.

So geht es den ganzen Sommer.
Drehen und biegen und die blauen Gesichter nach oben heben und lautlos sprechen mit dem Blau, aus dem sie gekommen sind.
Die Kraft reicht nicht bis in die dunkle Zeit.
Vorher verbleicht das Grün der feinen Leitern, und die blauen Gesichter darauf werden seltener.
Dann sind sie ganz verschwunden, und zurück geblieben sind kleine Tanzrasseln noch auf den Halmen, und darin warten die kommenden Blaugesichter für das nächste Jahr als Samenkörner,
Die grünen Stengel, aus denen die Leitern zum Himmel hinauf wollten, werden braun, aber sie verlieren nicht ihre Kraft.
Verarbeitete Hände von Frauen legten sie früher in Wasser, bis sie ihre inneren himmelsfesten Fäden freigaben, die sie dann verspinnen konnten,
und schliesslich weben,
zu festen Stoffen, auf denen die Träume der Menschen in der Nacht gut aufgehoben sein sollten und beschützt vor den Mächten der Unterwelt.
Leinen.
Handgewebtes Leinen, das den ganzen Winter über nach Sommer duftet.
Rau ist es am Körper, wie eine feine Massage bei jeder Bewegung, damit das Blut des Schläfers lebendig bleibt, während er in seinen Träumen den Himmel sucht.
In den Schränken früher die Rollen, aus denen Laken und Betttücher geschnitten wurden, auch die für den letzten Gang.

So war das einmal.


Flachs blüht vom Sonnenaufgang bis zum frühen Nachmittag.

Linum usitatissimum, der äußerst nützliche Lein - Wuchshöhe: 40 bis 70 cm -  Blütezeit: Juni, Juli, August Blütenfarbe: blau - Text aus der Zeit des 3. Reichs mit der nationalistischen Tendenz hin zu einem autarken Deutschland: "Lein, das Hausgespinnst - Der Lein oder Flachs, eine der ältesten Kulturpflanzen, war einst eine der reichsten Einnahmsquellen des deutschen Landmannes. Er brachte Reichtum und Überfluss ins Land, wofür die Augsburger Leinenweber Fugger ein glänzendes Beispiel geben, welche durch ihn so reich wurden, dass sie dem Kaiser große Summen leihen und auf deren Rückzahlung verzichten konnten.
Seit Einfuhr der billigen, aber auch geringwertigen Baumwolle liegt die Leinen-Industrie und mit ihr der Flachsbau darnieder. Statt der großen Summen, welche aus fremden Ländern für Flachsgewebe nach Deutschland kamen, geht nun deutsches Geld für Baumwolle nach England und Amerika.
Wenn aber der Flachsbau, insbesondere in der Art, wie er gewöhnlich betrieben wird, als Industriezweig nur geringen Erfolg verspricht, so ist seine Bedeutung für Haus und Familie
unverändert. Das erste Interesse an denselben hat die Hausfrau, der es eine Ehrenpflicht sein muss, den Bedarf an Haus-, Leib- und Bettwäsche für Familie und Gesinde, Säcke und Tücher für den Wirtschaftsgebrauch u. s. w. auf eigenen Boden zu ziehen. Sie soll deshalb auch beim kleinsten Grundbesitz Raum für so viel Flachsbau finden, als in einem Jahre im Hause versponnen werden kann, und ihm, von den schon im Herbste beginnenden Vorarbeiten bis zur Gewinnung der Faser die größte Sorgfalt zuwenden.
Sowohl die Gattung des Samens, sowie das dünnere oder dichtere Säen ist von Wichtigkeit, indem der Spring- oder Klanglein einen feineren, weicheren und weißeren Faden liefert als der Dreschlein, dessen Bast länger und stärker ist und vorzüglich für gröbere Gespinnste taugt, er gibt mehr aus und ist weniger empfindlich. Für starken Bast muss man dünn, für feinere Gewebe dicht säen."

"Der Zeitpunkt des Raufens (Ausziehens) ist besonders wichtig, denn zu früh ausgezogen, wird der Faden nicht dauerhaft, zu spät jedoch nicht geschmeidig, daher leicht brüchig. Wenn der Lein des Bastes wegen gebaut ist, so zieht man ihn aus, sobald die unteren Blättchen abfallen und die oberen welken, während die Stängel jedoch noch grün sind. Ist er aber zur Samengewinnung bestimmt, so muss er ganz reif werden und taugt dann nur für gröbere Gespinnste.
Zum Raufen wählt man womöglich einen Tag, an welchem der Boden mäßig feucht ist, damit man die Pflanzen leicht mit der Wurzel ausziehen kann, zieht in schiefer Richtung an und legt abwechselnd Knollen- und Wurzelende nebeneinander.
Der schlechtere Flachs wird nur einmal gebunden, der schöne zweimal, wonach man die Büschel (von ungefähr 20 cm. Durchmesser) aneinander an einen in in die Erde gesteckten Pfahl gelehnt dachartig in der Richtung von Südost nach Nordwest aufstellt, um sie in der Sonne zu trocknen, was man in Capellen aufsetzen nennt. Wenn eine Capelle fertig ist, zieht man den Pfahl aus, um damit eine andere aufzurichten. Man drückt den Flachs dabei dicht aneinander, damit er sich erhitzt und zu schwitzen beginnt, wodurch das in den Halmen enthaltene Fett sich löst und dem Baste mittheilt, welcher dadurch geschmeidig, dauerhaft und werthvoller wird. Das Rösten dient dazu, den Bast von der Holzfaser zu trennen, indem der gummiartige Stoff aufgelöst wird, was man durch Thau oder Einweichen bewerkstelligt. Zur Tauröste, welche bei kleinen Wirthschaften noch meistens üblich ist, obwohl sie unter allen Röstungsarten das geringste Product liefert, wird der Lein nach Abschlagen des Samens auf einer frisch gemähten Wiese in Reihen dünn auseinander gelegt ("gebreitet"), und so lange der Einwirkung von Tau, Regen und Sonne ausgesetzt, bis sich der Bast vom holzigen Stengel löst. Die Tauröste währt oft bis zu acht Wochen. Je kürzer aber die Dauer des Röstens, desto mehr Flachs und weniger Werg bekommt man. Nach der Tauröste kommt das Darren. Das Brechen des Leines wird sogleich nach dem Darren vorgenommen.  Es wird dadurch der holzige Kern des Stengelbündels zerquetscht, bis man eine ondulierte Locke in der Hand hält.Nach dem Brechen befreit man den Flachs durch das Schwingen von den Agen, indem er am Schwingstock mit dem hölzernen Schwingmesser geschlagen und gestrichen, und öfters ausgeschüttelt wird. Das Hecheln (Abziehen) bildet den Schluß der Vorbereitung des Bastes von Lein zum Spinnen und besteht in dem Durchziehen desselben an einer Art Kamm, aus einem mit Stiften besetzten Brettchen bestehend, wodurch die Fasern besser gespalten, gereinigt und die kurzen ausgeschieden werden. Man faßt dazu den Bund vom gebrechelten Baste in der Mitte an, wirft ihn auf die in der anderen Hand gehaltene Hechel und zieht ihn durch."    
Die Blüten blühen jeweils nur einen Tag und fallen ab, am nächsten Tag blühen neue.
Es bilden sich Samen in Samenkapseln.


Die Samenkapseln knistern im Wind.

Monika Heine rauft Flachs aus und legt ihn in Bündeln zur Tauröste auf das Feld.

Tauröste heißt: Tau, Regen und Sonne lassen das Lignin verrotten.


Beim Riffeln werden die Samenknutten abgezogen von den Stängeln.

Brechen, Schwingen und Hecheln


Hans Christian Andersen: Der Flachs
Der Flachs blühte. Er hat schöne, blaue Blumen, die so zart wie die Flügel einer Motte und noch viel feiner sind! – Die Sonne beschien den Flachs, und die Regenwolken begossen ihn, und das tut ihm ebenso wohl, wie es kleinen Kindern tut, wenn sie gewaschen werden und dann einen Kuß von der Mutter bekommen, sie werden ja viel schöner davon, und das wurde der Flachs auch.
»Die Leute sagen, daß ich ausgezeichnet gut stehe«, sagte der Flachs, »und daß ich schön lang werde, es wird ein prächtiges Stück Leinwand aus mir werden! Wie glücklich bin ich doch! Ich bin gewiß der glücklichste von allen! Ich habe es gut, und es wird etwas aus mir werden!
»Schnipp-Schnapp-Schnurre, Baselurre, aus ist das Lied!«
»Nein, das ist es nicht!« sagte der Flachs. »Die Sonne scheint am Morgen, der Regen tut wohl, ich kann hören, wie ich wachse, ich kann fühlen, daß ich blühe! Ich bin der allerglücklichste.«
Aber eines Tages kamen Leute, die den Flachs beim Schopfe faßten und mit der Wurzel herausrissen, das tat weh; er wurde in Wasser gelegt, als ob er ersäuft werden sollte, und dann kam er über Feuer, als ob er gebraten werden sollte, das war greulich! »Es kann einem nicht immer gut gehen!« sagte der Flachs. »Man muß etwas durchmachen, dann weiß man etwas!« Aber es wurde sehr schlimm. Der Flachs wurde gerissen und gebrochen, gedörrt und gehechelt, ja, das wußte er, wie das alles hieß; er kam auf den Rocken: schnurre surr! »Man muß froh sein über das Gute, was man genossen hat. Zu vielen Stücken feiner Wäsche wurde das Leinen. "Froh, froh, oh!" »Einmal muß es ja doch vorbei sein!« sagte jedes Stück. »Ich hätte gern noch länger halten mögen, aber man darf nichts Unmögliches verlangen!«
Dann wurden sie in Stücke und Fetzen zerrissen, so daß sie glaubten, nun sei es ganz vorbei, denn sie wurden zerhackt und zerquetscht und zerkocht, ja sie wußten selbst nicht, wie ihnen geschah – und dann wurden sie schönes, feines, weißes Papier! »Nein, das ist eine Überraschung! Und eine herrliche Überraschung!« sagte das Papier. »Nun bin ich feiner als zuvor, und nun werde ich beschrieben werden! Was kann nicht alles geschrieben werden! Das ist doch ein außerordentliches Glück!« »Das ist mehr als ich mir träumen ließ, als ich noch eine kleine, blaue Blume auf dem Felde war! 'Aus ist das Lied!' dann geht es gerade zu etwas Höherem und Besserem über. Nun werde ich gewiß auf Reisen in der ganzen Welt herumgesandt werden, damit alle Menschen mich lesen können! Das ist das wahrscheinlichste! Früher trug ich blaue Blumen, jetzt habe ich für jede Blume die schönsten Gedanken! Ich bin der allerglücklichste!«
Aber das Papier kam nicht auf Reisen, ein Teil kam zum Buchdrucker, und da wurde alles zum Druck für ein Buch gesetzt, ja zu vielen Büchern, denn so konnten unendlich viel Leute mehr Nutzen und Freude davon haben, als wenn das einzige Papier, auf dem das Geschriebene stand, die ganze Welt durchlaufen hätte.
Eines Tages wurde das Papier verbrannt.
»Nun gehe ich gerade zur Sonne hinauf!« sprach es in der Flamme, und es war, als ob tausend Stimmen das mit einem Munde sagten, und die Flamme schlug durch den Schornstein oben hinaus. –- Feiner als die Flammen, dem menschlichen Auge ganz unsichtbar, schwebten ganz kleine Wesen, an Zahl den Blumen, die der Flachs getragen hatte, gleich. »Schnipp-Schnapp-Schnurre, Baselurre, aus ist das Lied!«
Aber die kleinen, unsichtbaren Wesen sagten alle: »Das Lied ist nie aus, das ist das schönste von allem!

Hiltje Talsma aus Friesland beim Schwingen

John Gerard beim Trocknen des taugerösteten gehechelten Flachspapiers, das von mir mit Wasserzeichen und Wasserstrahlzeichnung bearbeitet wurde

Radierung auf dem taugerösteten gehechelten Flachspapier für das Künstlerbuch "Tau blau"

Heut soll das große Flachsernten sein/ Text und Melodie anonym/ Satz: Bernd Alois Zimmermann
In Rhoden sind in den alten Häusern noch auf vielen Dachböden die Gerätschaften zum Riffeln, Brechen, Schwingen und Hecheln, Spinnen und Weben vom Flachs. In den Schränken sind noch Leinenballen auf Vorrat. Für ein Leinenhemd wurden 200 Arbeitsstunden gebraucht. Daraus folgt eine sorgfältige Pflege und der Erhalt der Kleidungsstücke über Jahrzehnte z.B. durch die Kunst des Stopfens und Ausbesserns.
Den größten Anteil der genannten Arbeiten leisten Frauen.
Tau blau Herausgeber Edition Die gläserne Libelle und Gerard Paperworks, 2013, 22 x 18 cm,
Textcollage, Radierung, Wasserstrahlzeichnung, Papierguss,  Wasserzeichen und eingeschöpfte Papiere von Barbara Beisinghoff, Handgeschöpftes Papier aus Flachs, Baumwolle und Hanf von John Gerard, Handsatz und Buchdruck Schrifttyp Diotima 16 pt und 12 pt von Wollfgang Blauert, Handeinband von Vera Schollemann, Auflage 38 nummerierte und signierte Exemplare und 2 e.a.

Schon der Papierfaserstoff aus reinem taugerösteten Flachs und die besondere Bindung erzählen die Flachsgeschichte. Die aufgehefteten Lagen des ausziehbaren Ziehharmonikabuchrückens bewegen sich wie das Flachsfeld im Wind.
Unter dem Gesichtspunkt der Nachhaltigkeit und Haltbarkeit zum Schluss noch mein Künstlerbuch aus reiner Brennesselfaser zu dem Märchen "Die wilden Schwäne". In dem Märchen erlöst die Schwester ihre in Schwäne verzauberten Brüder, indem sie Hemden aus Brennesselfaser für sie wirkt. Märchenhaft sind die Eigenschaften der Brennesselfaser. Sie ist noch reißfester und elastischer als Flachs. Feinheitsbezogene Reißkraft (cN/tex) 58,5 für Grünnessel und 47,2 für Grünflachs. Elastizitätsmodul (cN/tex) 4562 für Grünnessel und 2998 für Grünflachs.
Zur Geschichte von Nesselkleidung: Im 1. Weltkrieg musste die deutsche Armee aufgrund eines Baumwollengpasses auf Nesseln umsteigen , um daraus Uniformen für ihre Soldaten zu machen. Dies geschah auch bei der französischen Armee unter Napoleon. Und sie könnten sich wohler gefült haben als Soldaten heute, denn wie Hanffasern funktionieren auch Nesselfasern wie eine natürliche Klimaanlage, denn Nesselfasern sind hohl, wodurch sie innen mit Luft gefüllt sind, was eine natürliche Isolation schafft.
Johannes Follmer/ Papiermanufaktur Homburg/Main hat nach vielen Versuchen mit wilder Brennessel (4% Faseranteil) für mein Künstlerbuch "Die wilden Schwäne" Blätter aus gezüchteter Brennessel (14% Faseranteil) geschöpft. Zehn Märchenbilder aus Hanf, Baumwollfaser und Brennessel und 10 Textblätter sind von einem Chemise aus Brennesselfaser umhüllt. Text Hans Christian Andersen/Brüder Grimm (Die sechs Schwäne) Handsatz und Buchdruck Druckladen Gutenbergmuseum, Zeichnung, aufgegautschtes Brennesselpapier, Aquarell, 35 x 25 cm, 25 Varianten
Durchdringung ist mir wichtig in diesen Projekten, die Durchdringung von Geschichte und persönlicher Erfahrung, von Setzen, Wachsenlassen und Vergehen und der Beweis der Stärke des zarten von Hand geschöpften Materials.